An der Kasse war es immer am
schlimmsten. Schon beim
Anstehen brach ihr der
Schweiß aus. Und wenn
sie die vier Flaschen
Schnaps aufs Laufband
legte, rebellierte der Darm. "Jetzt gucken
mich alle an", hämmerte es in ihrem Kopf,
"die denken, dass ich saufe." Das Bezahlen
schaffte sie gerade noch, dann wurde der
Druck so groß, dass sie die Kassiererin fragen
musste, ob sie die Personaltoilette benutzen
dürfe. Zurück im Auto, war sie fix
und fertig. "Ich habe mich so geschämt,
mich so schuldig gefühlt." Dabei trank Karin
Sommer* kaum Alkohol: Der Schnaps
war für ihren Mann Holger. Eine halbe
Flasche verbrauchte er am Tag, samstags
auch mal eineinhalb. Karin Sommer kaufte
ihn, weil sie dachte, dass das besser sei:
"So konnte ich doch wenigstens den mit
weniger Alkohol nehmen. Er hätte sich den
40-Prozentigen geholt."
Zehn Millionen Deutsche trinken zu viel
Alkohol, wissenschaftlich Ethanol genannt,
gehört in Wein und Bier und Spirituosen
und ist für die meisten Erwachsenen
nicht mehr als ein Genussmittel.
Gleichzeitig zählt die farblose flüssige Verbindung
aus Kohlenstoff, Wasserstoff und
Sauerstoff zu den schlimmsten Suchtstoffen.
Rund zehn Millionen Menschen
trinken hierzulande so viel, dass sie ihre
Gesundheit gefährden. Etwa 1,6 Millionen
sind wegen einer Alkoholabhängigkeit
dringend behandlungsbedürftig. Und die
allermeisten von ihnen leiden nicht allein.
Geschätzte acht Millionen Angehörige
geraten mit in den Sog der Sucht,
"co-abhängig" nennt sie die Wissenschaft.
Jeder zweite Mann mittleren Alters hat
Probleme im Zusammenhang mit Alkohol.
Und seine Familie hat Probleme mit
ihm.
Die Sommers gehörten zu diesen Fällen,
vier Jahre lang. Richtig angefangen hat
es 2002. Aber Warnsignale gab es schon
sechs Jahre früher. Damals starb Holgers
Mutter, und der Vater zog für vier Monate
ein bei Holger, Karin und den beiden Kindern
Andreas, 10, und Birgit, 12. Seine
Trauer spülte der Witwer mit Rum hinunter.
Irgendwann half ihm Holger dabei.
Eine Flasche leerten sie so am Abend. Karin
gefiel das gar nicht. Ihr Vater war Trinker,
"seitdem ertrage ich schon den Ge-
ruch nicht", sagt sie. Aber die Männer taten
ihr auch leid. Als der Vater auszog, war das
Problem beendet. Erst mal.
2002 starb dann Karins Mutter während
eines Urlaubs in Ägypten. Die Überführung
war kompliziert, Karin war traurig,
Holger gestresst. "Da ist mir der Alkohol
wieder eingefallen", sagt er. Er kaufte
eine Flasche Schnaps und trank am selben
Abend die Hälfte vor dem Fernseher aus.
Das machte er dann drei-, viermal pro Woche.
Schließlich jeden Feierabend, und am
Samstag wurden es auch mal eineinhalb
Flaschen. Mit Cola oder pur. "Ich habe da
überhaupt kein Problem drin gesehen", erinnert
er sich. Karin schon. Immer wieder
sagte sie zu Holger: "Du trinkst ein bisschen
viel." Er versprach: "Nächste Woche
wird's weniger." Aber es wurde mehr. Unter
Druck setzte Karin Holger nicht: "Dann
hätte er doch nur dichtgemacht." Und im
Grunde sah sie ihn ja auch gar nicht als
Abhängigen: "Alkoholiker, das waren für
mich die Penner am Hauptbahnhof, die
gar nichts mehr auf die Reihe bekommen.
Mein Mann ging ja noch jeden Tag zur
Arbeit."
Grenzen zur Sucht sind fließend
"Ich wundere mich immer wieder, wie
viel Duldung trinkende Männer von ihrer
Umgebung erfahren", sagt Sylvia Berke,
Autorin des Ratgebers "Familienproblem
Alkohol", "vor allem am Anfang der Erkrankung,
wenn sie noch leichter aufzuhalten
wäre." Die Ärztin und Suchttherapeutin
führt das auch darauf zurück, dass
Alkohol zu vielen Gelegenheiten in unserer
Gesellschaft akzeptiert ist und dass die
Grenzen zur Sucht so fließend sind. Viele
merken gar nicht, wie sie nach und nach in
die Abhängigkeit geraten - oder auch nur
zu oft oder zu viel trinken.
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen
veröffentlicht Werte, an denen sich jeder
leicht messen kann: Frauen sollten danach
nicht mehr als 12 Gramm pro Tag
trinken, Männer nicht mehr als 24 Gramm.
Jenseits dieser Menge steigt das Risiko
für zahlreiche Folgeerkrankungen. 24 Gramm Alkohol
entsprechen etwa zwei 0,3-Liter-Gläsern
Bier oder einem Viertelliter Wein - wobei
man aber an zwei Tagen pro Woche nüchtern
bleiben sollte. Durchschnittlich trinkt
in Deutschland jeder Erwachsene unter
70 Jahren täglich knapp das Doppelte.
Selbst wenn man diese Menge auf alle Bürger
ab 15 Jahre umrechnet, macht das pro
Jahr 12 Liter reinen Alkohol pro Kopf. Damit
liegt die Bundesrepublik europaweit
auf Platz 5. Mehr Alkohol trinken nur die
Iren, Tschechen und Ungarn, am meisten
die Luxemburger (15,6 Liter). Allerdings
wird der Großteil dieser Menge nur von
einer kleinen Gruppe konsumiert: den
Abhängigen.
Als abhängig gilt, wer mindestens drei
der folgenden Symptome aufweist:
• häufiger starker Drang nach Alkohol
• Unfähigkeit, Beginn und Ende des
Trinkens zu kontrollieren (etwa an einem Abend im Lokal)
• körperliche Entzugssyndrome wie Übelkeit oder Zittern
• Toleranzentwicklung (Es muss immer mehr Alkohol getrunken werden, um die gleiche Wirkung zu erzielen)
• Änderung des Tagesablaufs, um trinken zu können
• Fortführung des Konsums trotz schädlicher Folgen
• häufiger starker Drang nach Alkohol
• Unfähigkeit, Beginn und Ende des
Trinkens zu kontrollieren (etwa an einem Abend im Lokal)
• körperliche Entzugssyndrome wie Übelkeit oder Zittern
• Toleranzentwicklung (Es muss immer mehr Alkohol getrunken werden, um die gleiche Wirkung zu erzielen)
• Änderung des Tagesablaufs, um trinken zu können
• Fortführung des Konsums trotz schädlicher Folgen
Die Faustregel: Wer es nicht mehr schafft,
mal zwei Wochen gar nichts zu trinken, hat
ein gewaltiges Problem.
Tückisch am Alkoholismus ist, dass er
sich ganz langsam entwickelt. Der amerikanische
Physiologe Elvin Morton Jellinek
teilte die Entstehung der Krankheit bereits
1951 in folgende Stufen ein: In der ersten
"symptomatischen Phase" erreicht der
Trinker durch den Konsum einen Abbau
innerer Spannungen. Weil er dies immer
wieder erleben möchte, sucht er gezielt Situationen
auf, in denen getrunken wird.
Dadurch verlernt er nach und nach andere
Strategien, mit Stress umzugehen. In der
zweiten, der Vorläuferphase, hört Alkohol
auf, ein Getränk zu sein, und wird zur Droge.
Der Betroffene beginnt, heimlich zu
trinken und Vorräte anzulegen. Es kommt
zu ersten körperlichen Beschwerden wie
häufigen Erkältungen. In der "kritischen
Phase" folgt der Kontrollverlust. Hat der
Kranke einmal mit dem Trinken angefangen,
kann er nicht mehr aufhören, bis er zu
betrunken ist, um weiterzutrinken oder bis
er einschläft. Das Trinken entwickelt sich
zum Lebensinhalt, für den andere Aktivitäten
vernachlässigt werden.
In der "chronischen Phase" werden
die Rauschzustände immer länger und die
körperlichen Folgen sichtbarer. Es kommt
zu Zittern und Angstzuständen, manchmal auch Wahnvorstellungen. Ohne Therapie
endet diese Phase tödlich. Die Entwicklungsabschnitte
können sich überlappen,
und nicht jeder Trinker durchläuft sie
alle. Deshalb ergänzte Jellinek das Konzept
durch die Unterscheidung verschiedener
Trinker-Typen, etwa den Gelegenheitstrinker,
den Quartalstrinker oder den Spiegeltrinker,
der einen konstanten Blutalkoholspiegel
anstrebt.
So weit die äußerlich sichtbaren Schritte
in die Sucht. Inzwischen haben Forscher
auch herausgefunden, was sich dabei im
Gehirn des Trinkers abspielt: Alkohol
stimuliert über die Ausschüttung von Endorphinen
eine bestimmte Region im Vorderhirn,
den Nucleus Accumbens. Dieser
Gehirnteil ist dafür zuständig, Verhaltensweisen
danach zu bewerten, ob sie positive
Effekte bringen und daher wiederholt werden
sollten, etwa das Essen einer leckeren
Mahlzeit bei Hunger. Durch die wiederholte
Stimulation dieser Region klassifiziert
das Gehirn Alkohol fälschlich als extrem
positiv, ja lebenswichtig. Folglich gibt
es in Zukunft immer wieder den Befehl,
Alkohol zu trinken. Um das zu erleichtern,
wird die Wahrnehmung für genau diesen
Reiz geschärft: Alkoholiker nehmen Alkohol
in ihrer Umgebung besonders leicht
wahr, so wie man eine bekannte Stimme
besser aus einem Chor heraushört.
Genetische Veranlagung
Warum aber gerät der eine durch ein
gelegentliches Glas Wein in diese Spirale
und der andere nicht? Auf diese Frage gibt
es noch immer keine vollständige Antwort.
Die genetische Veranlagung spielt auf jeden
Fall eine Rolle: In einer schwedischen Studie
wurden von Männern, die man als Baby
adoptiert hatte, 10,7 Prozent Alkoholiker,
wenn auch ihr genetischer Vater abhängig
war - ansonsten nur zwei Prozent. Die
meisten Adoptionsstudien fanden derartige
Zusammenhänge. Allerdings müssen
zur ererbten Anfälligkeit äußere Stressoren
kommen, die der Betroffene nicht besser zu
bewältigen weiß als mit Alkohol. Frühe negative
Lebenserfahrungen etwa. Oder, wie
bei Holger Sommer, aktuelle Belastungen.
Recht verbreitet ist auch die Hypothese,
dass viele Alkoholiker in Wirklichkeit an einer
sozialen Phobie leiden, also einer krankhaft
gesteigerten Angst, abgelehnt zu werden.
Um diese Angst zu bekämpfen und
sich sicherer zu fühlen, greifen sie zur Flasche
- Alkohol als psychopharmazeutische
Selbstmedikation. Und nicht zu vergessen:
Damit Alkoholismus entstehen kann, muss
Alkohol verfügbar sein. Je mehr er in einer
bestimmten Umgebung als gängiges
Genussmittel und Entspannungsmethode
akzeptiert ist, desto schwerer ist es für Gefährdete
zu widerstehen.
Holger Sommer kam dennoch lange
klar. Er hatte ursprünglich Bauarbeiter gelernt.
"Da gab es ab und zu mal ein Feierabendbierchen",
erinnert er sich, "aber man
hat schon darauf geachtet, dass es nicht zu
viel wurde." Seit 1988 arbeitet er als Gabelstaplerfahrer
bei einem großen Hamburger
Kosmetikkonzern, "da herrscht absolutes
Alkoholverbot". Auf Familienfeiern hat er
mal einen Schnaps genommen, "so alle drei
Wochen war ich vielleicht mal angeschickert.
Aber nicht besoffen."
Ende 2002, einige Monate nach dem
Tod der Schwiegermutter, gehörte Holger
Sommer dann aber zu der Gruppe,
die den bundesdeutschen Alkoholdurchschnitt
hebt: Das erste Glas Schnaps trank
er oft gleich, wenn er gegen 16 Uhr nach
Hause kam, in der Küche. Bis 22 Uhr leerte
er nach und nach eine halbe Flasche. Karin
suchte die Schuld damals bei sich: "Ich
dachte, vielleicht hab ich mich nicht genug
um ihn gekümmert. Oder er trinkt, weil
ich so viel zugenommen habe." Manchmal
sagte Holger auch zu ihr: "Wenn du abnimmst,
trinke ich weniger." Oder: "Wenn
du aufhörst zu rauchen, höre ich auf zu
trinken." Karin hörte auf - aber Holger
trank weiter. Oft rief er sie vor dem Einkaufen
an und sagte halb im Scherz: "Vergiss
meinen Schnaps nicht." Karin ging immer
abwechselnd zu Spar, Lidl und Aldi,
"damit es nicht so auffällt".
Die Familie fühlt sich verantwortlich
"Scham breitet sich in einer Suchtfamilie
aus wie eine ansteckende Krankheit",
sagt Suchttherapeutin Sylvia Berke. "Die
Angehörigen fühlen sich verantwortlich
für das Verhalten des Trinkenden, obwohl
sie es gar nicht beeinflussen können." Oft
werden sie von diesem sogar explizit verantwortlich
gemacht, weiß Hartmut
Große, Geschäftsführer der Organisation
Al-Anon, dem Angehörigen-Pendant zu
den Anonymen Alkoholikern. "Wenn du
immer nörgelst, muss ich ja saufen", "wenn
du in der Schule bessere Noten hättest,
könnte ich aufhören zu trinken" - solche
Sätze sagen Alkoholabhängige zu ihrer
Frau und ihren Kindern. Nicht, weil sie
bösartig wären. Sondern weil sie sich für
ihr eigenes Verhalten schämen.
So drastisch muss es aber nicht kommen
und kommt es auch in vielen Alkoholikerfamilien
nicht, meint Berke. "Die Veränderungen
sind viel unauffälliger und feiner,
fast unmerklich - aber deshalb nicht
weniger tiefgreifend und schmerzhaft." Sie
vergleicht Familien mit einem Mobile:
Hängt man an eine Figur das Gewicht eines
Flachmanns, geraten auch alle anderen Figuren
aus dem Gleichgewicht. Die Rolle
der Partnerin werde zugleich überhöht
und überlastet, sagt Berke: "Sie übernimmt
nach und nach immer mehr Verantwortung
für die Familie. Damit erhält sie aber
auch viel Macht. Der trinkende Partner
wird zunehmend von ihr abhängig, wie ein
weiteres Kind. Sein Platz in der Familie
wird immer kleiner, vielleicht beziehen ihn
die anderen auch gar nicht mehr mit ein."
Sie versteckte seine Flaschen
Holger Sommer war ganz zufrieden,
dass Karin ihn mit Schnaps versorgte. Damit
er nicht alles auf einmal trank, versteckte
sie die Flaschen: unter den Sitzen
im Auto, in der Eckbank in der Küche, im
Kleiderschrank des Sohnes, unter dem
Ehebett. Jede angebrochene Flasche verdünnte
sie heimlich zur Hälfte mit Wasser.
Noch immer sah Holger in seinem Konsum
kein Problem. "Ich habe das Gefühl
jedes Mal genossen, dass alles so weit weg
war", sagt er. Sein Sohn aber wünschte sich
den nüchternen Vater zurück: "Tagsüber
konnten wir prima miteinander reden. Er
hat sich dafür interessiert, wie es mir geht.
Wenn er abends getrunken hatte, war ihm
das offenbar egal."
"Der Trinker verschwindet als Gegenüber
in den familiären Beziehungen", sagt
Berke, "die Frau hat de facto keinen Partner
mehr, die Kinder keinen Vater." Meist
nehmen die Kranken selbst dies gar nicht
wahr. Wie abwesend er als Betrunkener
war, wurde Holger Sommer erst nach dem
Entzug klar. "An einem Abend hat die ganze
Familie Malefiz gespielt, und ich wurde
gar nicht gefragt, ob ich auch Lust hätte",
erinnert er sich. "Weil vier Jahre lang klar
war, dass er sowieso nicht mitmachen würde",
sagt Karin. Stattdessen wurde er mit
jedem Glas stiller und verschwand meist
schon gegen acht zum Fernsehen im Schlafzimmer.
Manchmal stand er später noch
einmal kurz auf und meckerte Karin an:
"Warum kommst du nicht endlich ins
Bett?" Am nächsten Morgen konnte er sich
an nichts erinnern.
Alles, was die Sommers zuvor gemeinsam
unternommen hatten, machte Karin
jetzt allein: spielen, fernsehen, bummeln,
Freunde besuchen. Das heißt: Sie
versuchte es. Oft war sie kaum bei den
Freunden angekommen, da klingelte
schon das Telefon, und Holger beschwerte
sich, dass sie ihn allein ließ.
"Meist bin ich dann gleich zurückgefahren.
Sonst wäre er den ganzen
nächsten Tag gnaddelig gewesen."
Wenn sie doch mal zusammen ihre
Schwester in Uelzen besuchten - eineinhalb
Stunden Autofahrt von Hamburg
entfernt -, wollte Holger nach
zwei Stunden schon wieder nach
Hause. "Die Kinder waren dann natürlich
furchtbar enttäuscht." Aber
Holger bekam seinen Willen.
Sie spielte keinem etwas vor
Das Wort Co-Abhängigkeit ist
unter Wissenschaftlern und Betroffenen
umstritten. Tatsächlich dreht
sich aber das Leben des Alkoholikers
um die Flasche - und das des Partners
um den Alkoholiker. "Für mich
passte die Bezeichnung genau", sagt
Karin Sommer heute. Dabei tappte sie
noch nicht einmal in die gefährlichste Falle
für Angehörige: Sie spielte Familie und
Freunden nichts vor, wenn Holger mal
wieder nicht mitkommen konnte, weil er
betrunken war. Nur wenige Ehefrauen
wagen so viel Offenheit, weiß Berke. "Oft
werden die Grenzen nach außen dichtgemacht,
damit nur keiner etwas merkt.
Dann ruft die Frau beim Chef oder bei
Freunden an und erfindet für ihren Mann
eine Ausrede - aus Angst, sonst abgelehnt
zu werden." Karins Freunde und Familie
hielten zu ihr: "Alle haben mich bedauert.
Aber helfen konnten sie mir auch nicht."
Sie suchte sich aus den Gelben Seiten die
Telefonnummer einer Beratungsstelle.
"Hundertmal hatte ich den Hörer schon in
der Hand. Aber ich wusste nicht, wie
ich anfangen sollte. Und ich hätte Holger
ja sowieso nie dazu gekriegt, da hinzugehen."
"Was kann ich tun, damit mein Mann
aufhört zu trinken?" Diesen Satz hört
Hartmut Große am Info-Telefon von Al-
Anon von verzweifelten Ehefrauen am
häufigsten. Er beantwortet ihn immer
gleich: "Sie können nur etwas für sich tun."
Denn alle Bemühungen der Partnerin, den
Trinkenden zu kontrollieren, stützen nur
unbeabsichtigt seine Sucht: "Dadurch erspart
man dem Abhängigen die Konsequenzen.
Oft sind die aber genau der Anstoß,
den er braucht." Wenn erst der Führerschein
weg ist und der Chef mit Kündigung
droht, kann der Kranke immer weniger
leugnen, dass sein Verhalten problematisch
ist. Sylvia Berke bestätigt das: "Manchmal
muss es eben wehtun." Zwar ist man
heute nicht mehr der Ansicht, dass der
Alkoholiker erst "ganz unten" sein muss.
"Aber er muss an einen Punkt kommen,
wo er sich entscheiden muss zwischen dem
Alkohol und dem, was ihm sonst noch im
Leben wichtig ist." Denn auch wenn es oft
so aussieht, als sei dem Trinker alles egal:
"Die meisten haben noch viel, was sie nicht
verlieren möchten."
Ende 2005, drei Jahre nachdem ihr
Mann angefangen hatte zu trinken, bekam
Karin Sommer einen Bandscheibenvorfall.
"Das waren höllische Schmerzen", sagt sie,
"ich konnte mich kaum noch bewegen."
Psychosomatische Beschwerden sind häufig
bei Angehörigen von Suchtkranken,
sagt Berke: Rückenbeschwerden, Magen-
Darm-Krankheiten, Schmerzzustände,
Schlafstörungen und auch Depressionen.
Unbewusst stecke darin oft auch ratlose
Wut auf den Partner, die Botschaft: "Siehst
du, wie krank du mich gemacht hast!" Wütend
war Karin Sommer damals nicht, sagt
sie, höchstens genervt. "Eigentlich habe
ich gar nicht gemerkt, wie sehr ich gelitten
habe." Trennung, der Gedanke kam ihr
nie. "Holger hat mir ja nie etwas getan. Er
war nur nicht mehr richtig da." Dass ihr
Bandscheibenvorfall mit ihrem trinkenden
Partner zu tun haben könnte, wurde ihr
erst viel später klar, als der Therapeut in
Holgers Suchtklinik sie darauf ansprach.
Deutlich mehr Frauen als Männer halten
ihrem Partner trotz Alkoholismus die
Treue.
Service Beratung: • Telefonseelsorge Kostenlose und anonyme Beratung finden Sie rund um die Uhr unter den Nummern 0800/111 01 11 und 0800/111 02 22
• Info-Telefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 0221/89 20 31
• Sucht & Drogenhotline: Angebot verschiedener Drogennotrufe unter Schirmherrschaft der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, 01805/31 30 31 (14 Cent/Minute)
• NAKOS Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen
Service Tel.: 030/31 01 89 60, www.nakos.de (mit örtlichen Adressen)
• Guttempler Tel.: 040/24 58 80, www.guttempler.de
• Blaues Kreuz, Tel.: 0202/62 00 30, www.blaues-kreuz.de
• Kreuzbund, Tel.: 02381/67 27 20, www.kreuzbund.de
• Anonyme Alkoholiker, Tel.: 08731/32 57 30, www.anonyme-alkoholiker.de
• Al-Anon, Selbsthilfegruppen für Angehörige und Freunde von Alkoholikern. Auch Gruppen speziell für Jugendliche, Tel.: 0201/77 30 07, www.al-anon.de. Alle Beratungsstellen stehen auch Angehörigen zur Verfügung!
Bücher: • Sylvia Berke: Familienproblem Alkohol, Schneider Verlag Hohengehren, 2004, 10 Euro
• Simon Borowiak: Alk. Fast ein medizinisches Sachbuch, Heyne Verlag, 2007, 7,95 Euro
• Klaus Dietze, Manfred Spicker: Alkohol - kein Problem? Beltz Verlag, 2007, 14,90 Euro
• Wilhelm Feuerlein: Alkoholismus - Warnsignale, Vorbeugung, Therapie, Verlag C.H. Beck, 2005, 7,90 Euro
• Joachim Körkel: Damit Alkohol nicht zur Sucht wird - kontrolliert trinken, Trias Verlag, 2007, 14,95 Euro
• Brigitte Roth: Jeder kriegt die Kurve anders. Lebenswege von Süchtigen mit Happy End, Ueberreuter, 2007, 19,95 Euro Weitere Informationen im Internet: www.stern.de/sucht Großes Info-Paket zu Alkoholismus - und anderen Süchten
www.dhs.de Homepage der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen
www.bzga.de Homepage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
www.forumalkoholiker.de Internetforum von Alkoholkranken für Alkoholkranke
Im Januar 2006 näherte sich Holger
Sommers Talfahrt ihrem Ende. Nach einer
Routineuntersuchung in der Firma wurde
er zur Betriebsärztin gerufen: Seine Leberwerte
waren 20-fach erhöht. Die Ärztin redete
Klartext: "Sie trinken deutlich zu viel
Alkohol." Sein Chef gab Holger Sommer
Zeit, um den Konsum zu reduzieren, der
stimmte dafür unangekündigten Blutkontrollen
zu - und trank weiter. Im Mai
wurde eines Morgens ein Restalkohol von
0,24 Promille festgestellt. Die Firma ließ
ihm die Wahl: Langzeittherapie oder
Kündigung. Karin hatte Angst, dass er jetzt
den Halt verlieren würde. Aber ihr fiel auch
ein Stein vom Herzen: "Endlich passierte
etwas!"
50 bis 60 Prozent werden trocken
Die Chancen, eine Alkoholabhängigkeit
in den Griff zu bekommen, sind heute besser
als allgemein angenommen: Mit der
richtigen Therapie gelingt es immerhin 50
bis 60 Prozent der Behandelten, langfristig
trocken zu werden. Die Krankheit an sich ist aber chronisch
und nie ganz "heilbar" in dem Sinne,
dass ein kontrollierter Umgang mit Alkohol
später wieder möglich wird, sagt Falk
Kiefer, Professor für Suchtforschung an
der Universität Heidelberg und stellvertretender
Direktor der Suchtklinik im Zentralinstitut
für seelische Gesundheit Mannheim.
Deshalb müsse man auch den Begriff
Erfolg flexibler sehen: "Manchmal ist
es schon ein Fortschritt, wenn der Kranke
am Leben bleibt." Oder zumindest über
lange Phasen keinen Alkohol trinkt. Einige
von Kiefers Patienten werden pro Jahr einmal
rückfällig, was aber nicht zwingend
ein Misserfolg sei: "Wenn die Patienten
schnell wieder in Behandlung kommen,
sind sie nach drei Wochen Klinik wieder
trocken und haben damit weniger krankheitsbedingte
Ausfallzeiten als Menschen
mit anderen chronischen Erkrankungen
wie etwa Multiple Sklerose oder Rheuma."
Grundsätzlich "untherapierbare" Alkoholiker
gibt es nicht, betont der Mediziner:
"Oft schaffen es auch Leute, denen es niemand
zugetraut hat."
Karin hat es Holger zugetraut, "von
Anfang an". Warum? "Ich wusste es einfach."
Seine Firma organisierte ihm einen
Platz in einer Suchtklinik mitten im Wald,
50 Kilometer südlich von Hamburg. "Auf
der Fahrt dorthin habe ich mich gefühlt, als
ob ich in den Knast gehe", sagt Holger, "ich
hatte total Angst." Angst wovor? "In mein
Innerstes zu schauen." In der Klinik wurde
ihm vor Augen geführt, was seine Zukunft
mit Alkohol wäre: Von den 16 Männern in
seiner Therapiegruppe war er als einziger
noch verheiratet. Einer kam im Rollstuhl,
ein anderer auf Krücken, fünf aus dem
Knast. "Mir wurde klar, was Alkohol für
eine Macht hat." Auch über ihn. In vielen,
vielen Gruppen- und Einzelsitzungen tastete
er sich an die Erkenntnis, dass er krank
ist, abhängig. Dass der Alkohol eine Flucht
war. In einem Gedicht hielt er seine Gedanken
fest: "Ich war ein Träumer, der über
brüchiges Eis gelaufen ist und sich oft nasse
Füße geholt hat. Meine Familie hat das
Knacken gehört. Ich nicht."
Karin fuhr Holger besuchen, jeden
Samstag und Sonntag, eine Stunde morgens
hin und abends zurück, obwohl sie
sich davor fürchtet, im Dunkeln Auto zu
fahren. "Aber ich habe gemerkt, dass er
mich brauchte." Auch Karin hatte Besuch:
Die Sozialtherapeutin der Firma kam zu
ihr nach Hause, mit Blumenstrauß. Worüber
die beiden Frauen geredet haben, weiß
Karin schon gar nicht mehr, "aber es hat
mir sehr gutgetan".
Alternative Entspannung finden
Nach vier Wochen in der Klinik wurde
Holger Sommer Gruppensprecher und
begleitete andere bei Behördengängen in
Hamburg. Gemeinsam übten sie, wie sie
am besten reagieren, wenn der Drang nach
Alkohol wieder über sie kommt. Was sie
stattdessen machen können, um zu entspannen.
Wie man einen Drink freundlich,
aber bestimmt ablehnt.
Zum Ende der Therapie stellten sich die
verschiedenen Selbsthilfegruppen in der
Klinik vor. Holger gefielen gleich die Guttempler
am besten, "die waren sehr sachlich
und haben uns mehr reden lassen als
dass sie selbst geredet haben". Er schrieb
sich die Adresse auf. Am 2. Januar 2007
wurde er entlassen, nach vier Monaten.
Ein Vorzeigepatient. Denken alle. "Aber
tief drinnen habe ich mich immer noch
gesträubt. Ich wollte mir beweisen, dass ich
nicht abhängig bin." Am 26. Januar 2007
sollte Holger Sommer zur Blutentnahme
bei der Betriebsärztin kommen. Am Abend
vorher kaufte er eine Flasche Schnaps und
trank sie komplett aus. Eine Katastrophe?
Bis heute ist es bei dieser einen Flasche geblieben.
"Das war für mich der endgültige
Beweis: Ich bin Alkoholiker. Ich darf nie
wieder Alkohol trinken."
Daran hat sich Holger Sommer bis heute
gehalten. Wenn er jetzt nach Hause
kommt, fragt er Karin: "Hast du einen
Kaffee?" Dann sitzen sie am Esstisch und
reden über den Tag. Sie spielen wieder
zusammen Malefiz und Mau-Mau, unternehmen
etwas. "Neulich haben wir gemeinsam
den Keller aufgeräumt", sagt Karin,
"das wäre früher undenkbar gewesen."
Regelmäßig gehen die Sommers zur Guttempler-
Gruppe. "Das hilft mir, nicht zu
vergessen, dass ich immer vor einem Rückfall
auf der Hut sein muss", sagt Holger.
Mit der Krankheit gehen die beiden offen
um, auch ihre Vornamen haben sie für
diese Geschichte nicht ändern lassen, "wer
uns kennt, weiß es sowieso". Die allermeisten
Freunde und Verwandten zeigen Verständnis,
haben sogar Respekt, dass Holger
es geschafft hat. Nur zu Feiern von Kollegen
geht er lieber nicht mit. Er hat Angst:
"Wenn die selbst zu viel getrunken haben,
kommen vielleicht doch die Sprüche, Holger,
einen kannst du doch."
Karin glaubt fest daran, dass die Plage
Alkohol für sie und Holger vorbei ist.
"Noch mal würde ich das auch nicht
mitmachen." Nächstes Jahr haben die
beiden Silberhochzeit. Ist Holger seiner
Frau dankbar für alles, was sie mit ihm
durchgehalten hat, in diesen schlechten
Zeiten? Er sieht Karin an und schluckt:
"Tierisch. Das kann man gar nicht in Worte
fassen."
* Nachname der Familie sowie die Vornamen der Kinder geändert
Von Heike Dierbach
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